Gewalt zeigt sich in vielen verschiedenen Formen und oft sind diese nicht so einfach als Gewalt erkennbar. Es gibt ein paar klare Muster, die bei Gewalt in Beziehungen immer wieder auftreten. Darüber gebe ich dir hier einen Überblick.
In meinem Artikel zum ersten Überblick habe ich schon angesprochen, dass Gewalt nicht immer körperlich sein muss. Meistens beginnt Gewalt viel subtiler, vielleicht erst mit Worten, Gesten oder einer wachsenden Kontrolle, die irgendwann dein Leben bestimmt. Gerade in solchen Situationen kann es unglaublich schwer sein, Gewalt zu erkennen, weil sie so schleichend beginnt. Manchmal fängt es zum Beispiel mit einer emotionalen Distanz an, bevor sich dann irgendwann später Gewalt ganz klar zeigt. Erst später fragst du dich dann vielleicht, wie es so weit kommen konnte, weil am Anfang noch alles ganz anders war.
Wenn du merkst, dass du dich in einer Beziehung nicht mehr frei fühlst oder immer öfter Angst hast, was als Nächstes kommt, dann ist das schon ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt. Ich weiß, dass es sehr schmerzhaft und verunsichernd sein kann, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, aber was du erlebst, ist wichtig und ich möchte dir dabei helfen, Klarheit zu gewinnen. Damit du die Gewalt, die es bereits gab, erkennen kannst – oder um zu merken, wenn du dich davor schützen solltest.
Bitte beachte, dass ich in diesem Artikel Beispiele nenne, von denen dich einige belasten könnten. Wenn dir dabei nicht wohl ist, kannst du sie überspringen.
Emotionale und verbale Gewalt
Emotionale Gewalt hinterlässt keine sichtbaren Wunden, aber sie kann genauso tiefgreifend und verletzend sein. Sie tritt in fast allen gewalttätigen Beziehungen auf und ist dann meist die erste Form von Gewalt, auf die weitere Folgen. Wenn du emotionale Gewalt erlebst oder erlebt hast, heißt das natürlich noch nicht, dass darauf auch noch weitere Formen von Gewalt folgen, aber der Umkehrschluss ist wahr: wenn sexualisierte oder körperliche Gewalt auftreten, gab es vorher meist auch schon emotionale Gewalt. Deshalb pass bitte gut auf dich auf.
Verbale Gewalt bedeutet, dass du mit Worten verletzt wirst – ob sie geflüstert oder geschrien werden, spielt dabei ersteinmal keine Rolle. Aber die Wirkung ist verletzend. Und deshalb zählt sie zu emotionaler Gewalt.
Hier sind einige Beispiele für emotionale und verbale Gewalt. Bitte überspringe sie, wenn dir dabei nicht wohl ist:
- Wenn du ständig kritisiert wirst – ob es um deine Handlungen, dein Aussehen oder die Menschen in deinem Leben geht
- Wenn dir das Gefühl vermittelt wird, dass du nichts richtig machen kannst, egal wie sehr du dich anstrengst
- Wenn du kontrolliert wirst oder wenn die andere Person darüber entscheidet, mit wem du dich treffen darfst, wie du deine Zeit verbringst, oder wo du hingehen kannst, dann ist das nicht „nur“ Eifersucht – es ist Kontrolle. Und Kontrolle ist Gewalt.
- Wenn du beschimpft oder vor anderen schlecht gemacht wirst
- Wenn dir das Gefühl gegeben wird, nicht (mehr) liebenswert zu sein
- Wenn die andere Person aufhört, mit dir zu reden und dich einfach ignoriert
- Wenn du das Gefühl vermittelt bekommst, keine Möglichkeit zu haben, ohne die andere Person klarkommen zu können
- Wenn sich die andere Person auf grausame Weise über dich lustig macht
- Wenn die andere Person Wissen darüber ausnutzt, was dich verletzt – zum Beispiel Erfahrungen aus deiner Kindheit – um dich gezielt emotional verletzen zu können
- Wenn dich die andere Person vor anderen Personen blamiert oder schlecht dastehen lässt
Wenn du diese Beispiele liest und dich fragst, ob deine Beziehung emotional oder verbal gewalttätig ist, hilft es vielleicht, dich Folgendes zu fragen: Würdest du einer Person, die du gut kennst, ehrlich von den Dingen in deiner Beziehung erzählen? Falls dir dieser Gedanke unwohl ist, ist das ein Zeichen dafür, dass du dich nicht sicher fühlst. Hör auf dieses Gefühl.
Körperliche Gewalt
Körperliche Gewalt ist von allen Gewaltformen noch am leichtesten als Gewalt zu erkennen. Sie kann auf ganz unterschiedliche Weisen auftreten, von denen manche auch weniger leicht erkennbar sind. Hier gebe ich dir eine Reihe von Beispielen, wie körperliche Gewalt aussehen kann:
- Wenn du geschlagen wirst – möglicherweise genau an Körperstellen, an denen es nicht sichtbar ist oder an denen es besonders schmerzhaft ist
- Wenn du gestoßen, geschubst, gegen Möbel, Wände oder zu Boden gedrückt wirst
- Wenn du bedroht wirst – ob mit Waffen, mit Fäusten oder einem Gegenstand
- Wenn du gegen deinen Willen festgehalten oder in eine Ecke gedrängt wirst
- Wenn jemand mit einem Gegenstand nach dir schmeißt – selbst, wenn du nicht getroffen wirst
- Wenn dir Schmerzen zugefügt werden, zum Beispiel durch Verbrennen mit Zigaretten, durch Kneifen an empfindlichen Stellen oder Bisse
- Wenn du an den Haaren gepackt oder gezerrt wirst
- Wenn du gewürgt wirst oder dir der Mund zugehalten wird, sodass du nicht mehr sprechen oder weniger gut atmen kannst
Du musst auch nicht unbedingt Verletzungen davon tragen, damit etwas als körperliche Gewalt zählt:
- Wenn du zum Beispiel über ein Geländer gedrückt wirst und die Person dir Angst macht, dass du herunterfallen könntest, ist das eindeutig körperliche Gewalt
- Wenn du mit Wasser übergossen wirst
- Wenn dir Essen, Trinken oder Schlaf entzogen werden
- Wenn dir Medikamente gegeben werden, die du nicht nehmen willst, nehmen musst oder ohne, dass du davon weißt, ist das Körperverletzung
- Wenn du dich nicht frei bewegen kannst, weil zum Beispiel Türen zugeschlossen werden, ist das Freiheitsberaubung und Gewalt
All dies sind Beispiele für körperliche Gewalt, aber es gibt noch viele weitere Formen.
Sexualisierte Gewalt
Viele Menschen haben das Bild im Kopf, dass sexualisierte Gewalt von Fremden ausgeübt wird. Tatsächlich sind es aber häufig Menschen, die man gut kennt – vor allem in Beziehungen kommt sie daher häufig vor. Sie kann zusammen mit anderen Gewaltformen auftreten oder allein. Bei sexualisierter Gewalt geht es übrigens nicht darum, Intimität zu teilen, sondern es werden zumindest deine Grenzen ignoriert, aber oft wird sie gezielt als Mittel eingesetzt, um Kontrolle über dich auszuüben. Auch, wenn die gewalttätige Person dir vermutlich eher sagt, dass sie sich einfach nicht zusammenreißen konnte oder du nicht hättest “anfangen” dürfen.
Sexualisierte Gewalt zu erleben, ist besonders verletzend, weil sie nicht nur deinen Körper betrifft, sondern auch deine tiefsten Grenzen der Selbstbestimmung überschreitet. Gerade in einer Beziehung raubt sie dir deshalb Vertrauen in die andere Person und deine Sicherheit. Hier sind einige Beispiele dafür, was zu sexualisierter Gewalt in Beziehungen zählen kann:
- Wenn du zu sexuellen Handlungen gedrängt oder überredet wirst, die du eigentlich nicht willst
- Wenn du emotional unter Druck gesetzt wirst „mitzumachen“
- Wenn die andere Person mit sexuellen Handlungen nicht mehr aufgehört, obwohl du offensichtlich unbeteiligt bist
- Wenn die andere Person mit sexuellen Handlungen beginnt, wenn du gar nicht erst zustimmen, also dein Einvernehmen oder Consent geben kannst, weil du zum Beispiel schläfst, betrunken bist oder unter Einfluss von Medikamenten stehst
- Wenn die Person bei einvernehmlichem Sex plötzlich vorherige Absprachen ignoriert oder mit Dingen anfängt, denen du vorher nicht zugestimmt hast
- Wenn die Person bei einvernehmlichem Sex mit etwas nicht aufhört, obwohl du durch Worte, Blicke, Töne oder Gesten zu verstehen gibst, dass du nicht einverstanden bist
- Wenn dich eine Person dazu drängt, Sex mit Anderen zu haben oder dich vor anderen auszuziehen. Hier gibt es zum Beispiel die “Loverboy”-Methode, bei der meist Männer jungen Frauen Liebe vorspielen, um sie später zu erpressen, sich zu prostituieren.
- Wenn dich eine Person dazu drängt, explizite Bilder von dir zu machen, die du nicht willst oder explizite Bilder, die du freiwillig gemacht hast, ohne deine Zustimmung mit anderen teilt
Wenn du in einer Beziehung eine dieser Sachen oder etwas Ähnliches erlebt hast, war das sexualisierte Gewalt. Es tut mir wahnsinnig Leid, dass dir das passiert ist. Niemand sollte sich über deine Grenzen hinwegsetzen. Wenn du wissen möchtest, wie das, was du erlebt hast, rechtlich eingeordnet werden könnte, findest du in diesem Artikel einen ersten Überblick dazu.
Finanzielle Gewalt
Eine weitere Form von Gewalt, die in Beziehungen häufig angewendet wird, um Macht auszuüben, ist finanzielle Gewalt. Das bedeutet, dass Geld als ein Mittel eingesetzt wird, um dich an die andere Person zu binden. Finanzielle Gewalt kann unterschiedliche Formen annehmen und gilt rechtlich gesehen nicht als Gewalt, aber es kann dir helfen, ein Gewaltmuster in deiner Beziehung zu erkennen, wenn du dich in einem der folgenden Beispiele erkennen kannst:
- Die Person, mit der du zusammen bist, kontrolliert deine Ausgaben
- Dir wird immer wieder gesagt, dass du nicht arbeiten musst oder sollst
- Wenn du Geld verdienst, geht es auf einem gemeinsamen Konto ein, aber du hast keine freie Verfügung darüber
- Wenn du Dinge kaufst, die der anderen Person nicht gefallen, bekommst du Ärger
- Die andere Person nimmt Schulden in deinem Namen auf – vielleicht erfährst du erst im Nachhinein davon
- Die Person, mit der du zusammen bist, hat geheime Konten oder legt Geld zur Seite
- Dir wird immer wieder gesagt, dass du nicht mit Geld umgehen kannst und deshalb keinen Zugriff auf Geld haben darfst
- Dir wird immer wieder damit gedroht, ohne Geld dazustehen, wenn du die Beziehung beenden würdest
- Dir wird verboten oder extrem schwer gemacht, dich fortzubilden oder dich beruflich weiterzuentwickeln
Weitere Weisen, wie Gewalt über dich ausgeübt werden kann
- Deine Freiheit wird eingeschränkt, indem dir wichtige Unterlagen wie der Reisepass, deine Bankkarten oder die Geburtsurkunde abgenommen werden – vielleicht auch die deiner Kinder
- Du wirst sozial isoliert von deinen Freund*innen, deiner Familie oder anderen Menschen
- Du wirst digital überwacht – zum Beispiel werden deine Nachrichten auf dem Handy, deine E-Mails oder andere Dinge kontrolliert
- Die Person, mit der du eine Beziehung hast, stellt dir nach und taucht plötzlich an Orten auf, an denen du bist
- Die Person nimmt dir deine Freiheit, was Reproduktion angeht: das heißt, sie zersticht zum Beispiel Kondome, verbietet dir, zu verhüten oder kontrolliert deine Verhütungsmittel
- Gegenstände, die dir wichtig sind, werden zerstört oder dir vorenthalten
- Deine religiöse Freiheit wird eingeschränkt
Wenn du dich in den Beschreibungen wieder erkennst, erlebst du aller Wahrscheinlichkeit nach Gewalt oder hast sie in der Vergangenheit Gewalt erlebt. Das tut mir unheimlich leid. Niemand hat verdient, Gewalt zu erfahren und ich würde dir wünschen, dass du sie hinter dir lassen kannst.
Ich kann mir vorstellen, dass es ganz schön aufwühlend sein kann, das zu erkennen. Vielleicht hilft es dir, mit einer Person darüber sprechen zu können, die Situationen wie deine kennt. Ich habe dir in diesem Artikel verschiedene Anlaufstellen und Beratungsmöglichkeiten zusammengestellt, die dir helfen können, deine nächsten Schritte zu planen.