Traumatische Erlebnisse wie Gewalterfahrungen können lange nachwirken und beeinflussen, wie wir uns selbst, unsere Erlebnisse und unsere Wahrnehmung von Situationen empfinden. Oft gibt es auch einen heftigen Widerspruch zwischen dem, was man fühlt und dem, was man weiß. Zum Beispiel fühlen sich viele Menschen, die Gewalt erlebt haben, zu Unrecht für das Geschehene mitverantwortlich, obwohl sie eigentlich rational wissen, dass sie keine Schuld oder Verantwortung dafür hatten. Ich will dir deshalb ein paar Gedanken mitgeben, die Dir helfen können. Vielleicht sind sie schon ganz selbstverständlich für dich, vielleicht gibt es aber auch Tage, an denen es dich bestärkt, sie (noch) einmal lesen zu können.
Du hast keine Schuld an dem, was dir passiert ist
Leider kämpfen viel zu viele Betroffene von Gewalt mit quälenden Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen. Das sind Gedanken, die oft tief verankert sind, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der wir immer wieder Schuldzuweisungen an Betroffene hören. Sich selbst die Schuld für etwas zu geben, das passiert ist – und sei es auch nur für einen Teil davon – ist aber nicht gerecht, weil nur die Person Schuld dafür trägt, die übergriffig oder gewalttätig wurde.
Wenn du bewusst oder unbewusst so empfindest, ist das eine große emotionale und psychische Belastung. Vielleicht kennst du Gedanken wie “Ich hätte nicht…” oder “Aber wenn ich einfach…”.
Ich möchte dich bestärken, diesen Gedanken bewusst zu widersprechen, wenn du sie bemerkst. Die Verantwortung für das, was dir widerfahren ist, liegt vollkommen und alleinig bei der Person, die dir geschadet hat. Es ist nicht deine Schuld, und nichts, was du getan oder nicht getan hast, rechtfertigt die Gewalt.
Du verdienst es, dir selbst mit Verständnis zu begegnen
Versuche, mit dir selbst so zu sprechen, wie du mit einer Person sprechen würdest, die du liebst. Denn du hast es verdient, mit Geduld und Verständnis behandelt zu werden – von dir selbst genau wie von Anderen. Besonders in schweren Momenten ist es wichtig, dir selbst Mitgefühl zu schenken und dich nicht für das zu verurteilen, was du fühlst oder durchmachst.
Es gibt keine „richtige“ Weise mit Gewalterfahrungen umzugehen - nur deine eigene
Jeder Mensch reagiert ganz individuell auf Gewalterfahrungen. Wie du dich jetzt fühlst und dich verhältst, ist berechtigt und die Schritte, für die du dich entscheidest, sind Teil deiner ganz eigenen Art, mit dem Erlebten umzugehen. Solange du auf dein eigenes Gefühl hörst, was sich für dich richtig oder falsch anfühlt, und solange du dich vor ungesunden Verarbeitungsmechanismen schützt, ist dein Weg der richtige Weg für dich.
Deshalb kann es auch nicht “die eine” richtige Weise geben, Gewalt zu verarbeiten und mit solchen Erfahrungen umzugehen. Für die einen Menschen sind bestimmte Schritte wie eine Anzeige ein unverzichtbarer Schritt, für andere wären sie nicht das Richtige.
Es kann sein, dass du von mir oder von anderen Empfehlungen hörst, die nicht zu dir passen. Du darfst ganz allein entscheiden, wie dein Weg aussehen soll und was du tust. Niemand anderes kann einschätzen, was richtig für dich ist. Vertrau dir auf deinem Weg selbst. Es ist übrigens auch normal, wenn du dich in deiner Art der Verarbeitung selbst überraschst oder Gefühle oder Reaktionen erlebst, die du von dir nicht erwartet hättest. Das heißt nicht, dass sie falsch sind. Du entwickelst dich weiter und das ist in Ordnung.
Es ist wertvoll zu akzeptieren, wie du dich fühlst
Vielleicht fühlst du dich seit deiner Gewalterfahrung gelähmt, wütend, traurig; vielleicht verunsichert oder distanziert. Gewalt kann ganz unterschiedliche Gefühle auslösen, die sich manchmal richtig überwältigend anfühlen können. Gerade dann kann es erstmal einfacher wirken, sie zu verdrängen. Doch das Verdrängen kann auf lange Sicht noch belastender für dich werden, da die Gefühle dadurch an Intensität gewinnen und später oft mit größerer Wucht zurückkommen.
Deine Gefühle zuzulassen ist gerade deshalb ein Zeichen von Stärke und zeigt, dass du bereit bist, dich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und es irgendwann hinter dir zu lassen. Es mag anfangs schwierig sein, doch je mehr du deine Gefühle zulässt, desto leichter wird es, sie mit der Zeit zu verarbeiten und hinter dir zu lassen. Gib dir selbst Zeit und Raum dafür. Es ist okay, auch noch lange Zeit von deiner Gefühlswelt eingenommen zu sein und nicht wie vorher zu “funktionieren”. Du verdient dein eigenes Mitgefühl und Nachsicht mit dir selbst. Hab Vertrauen dahin, dass du all das langsam aber sicher hinter dich bringen kannst. Egal, wie lange es braucht.
Du darfst deinem Bauchgefühl vertrauen und es als Wegweiser nutzen
Vielleicht spürst du in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Menschen, dass du ein ungutes Bauchgefühl hast oder dass deine Intuition dir sagt, dass etwas nicht stimmt. Das kann sich zum Beispiel wie Unbehagen oder Angst anfühlen. Diese Gefühle können wertvolle Signale für dich sein, dass du dich nicht sicher fühlst und dich aus einer Situation befreien solltest.
Dein Bauchgefühl hilft dir, deine eigenen Grenzen zu erkennen und zu lernen, sie anderen gegenüber zu setzen. Das ist unglaublich wichtig, damit du dich sicher fühlen kannst. Das kann zum Beispiel schon sein, eine Einladung abzusagen, wenn du merkst, dass du dich mit einer Person nicht wohl fühlst.
Erlaube dir deshalb, auf dieses Bauchgefühl zu hören und es ernst zu nehmen – selbst, wenn es manchmal schwer zu deuten ist oder zu unangenehmen Situationen führen kann. Du musst dich für deine Grenzen nicht rechtfertigen oder sie erklären können, weder dir selbst noch anderen gegenüber. Vor allem solltest du deine eigenen Grenzen nicht für andere zurückstecken müssen.
Gib dir Zeit und konzentriere dich auf den heutigen Tag
Heilung verläuft nicht linear und braucht vor allem Zeit. Es wird immer mal wieder gute und auch schlechte Tage geben. Manchmal fühlst du dich stark, manchmal kann es dir so schlecht gehen, dass es dir wie ein Rückschritt erscheint. Doch diese Schwankungen sind normal und kein Zeichen dafür, dass du dich von einer Besserung entfernst.
Natürlich kann es frustrierend sein, nicht immer Fortschritte zu spüren. Du solltest aber nicht von dir erwarten, dass es dir von heute auf morgen wieder gut geht. Oft ist es hilfreicher, sich auf den aktuellen Tag zu konzentrieren und die Herausforderungen Schritt für Schritt zu bewältigen. Das hilft dir, Vertrauen in dich selbst und in eine Besserung zurückzugewinnen.
Denn jeder Tag, den du bewältigst, ist ein Teil des Prozesses, und jeder Schritt, den du machst, zeigt dir, dass du auf deinem eigenen Weg vorankommst. Mit der Zeit werden sich viele kleine Erfolge zu großen Veränderungen zusammensetzen. Gib dir deshalb die Zeit, die du brauchst. Irgendwann wirst du merken, dass das, was dich einst noch überwältigt hat, viel leichter geworden ist.
Selbstfürsorge ist kein Egoismus
Vielleicht fällt es dir im Moment schwer, deine eigenen Bedürfnisse in den Fokus deiner Aufmerksamkeit zu stellen und nicht mehr all das zu tun, was du früher getan hättest. Du darfst dich aber immer – und gerade jetzt – selbst priorisieren und das tun, was für dich möglich und richtig ist. Das ist kein Egoismus, sondern gesund. Selbstfürsorge bedeutet, dir selbst in schwierigen Zeiten beizustehen und deine Energie auf das zu verwenden, was dir gut tut. Versuch dich deshalb von deinen eigenen Erwartungen frei zu machen. Gib dir Ruhe und Zeit, dich erst einmal um dich selbst zu kümmern. Nichts ist wichtiger, als für dich selbst zu sorgen.
Versuch dir Momente der Freude zu schaffen und sie zuzulassen
Manche Betroffene haben Schwierigkeiten damit, in schweren Zeiten Momente der Freude zu erleben. Das meine ich auf zwei Weisen: für viele ist es schwer, sich Momente der Freude zu ermöglichen, für Andere ist es schwer, wenn sie tatsächlich Momente der Freude erleben.
Versuch dir trotz allem, was du erlebst, positive Momente zu schaffen, die dich aufbauen. Oder anders gesagt: schaff sie dir gerade deshalb. Du verdienst es, mit der Zeit immer mehr davon erleben zu können.
Wenn du schöne Momente spürst, dann lass sie zu. Solltest du dich davon überrascht oder fast schuldig dafür fühlen, nimm das erst einmal wahr. Dann mach dir bewusst, dass Freude und Leichtigkeit zur gleichen Zeit neben Schmerz existieren dürfen. Lass also nicht die Deutung zu, dass Freude deinen Schmerz entwerten würde. Im Gegenteil: schöne Momente zeigen dir vielmehr, dass es noch andere Facetten in deinem Leben gibt und dass du fähig bist, wieder Positives zu empfinden. Es ist ein wahnsinnig wertvolles Zeichen dafür, dass du einem Leben immer näher kommst, in dem du dich von deinen Erfahrungen befreit hast.